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Des Wahnsinns fette Beute

"Geschichte! Geschichte! Geschichte!" skandierten die Gäste im 69-Eyes und einige Stammkunden schlugen ihre Humpen kräftig im Takt auf die Tische. Irgendjemand war wieder einmal auf die glorreiche Idee gekommen, eine Geschichte vom Wirt Neunauge zu fordern.
Neunauge schaute in den vollbesetzten Schankraum und ließ seine Blicke schweifen. Innerlich schmunzelnd beugte er sich dem Ritual.
"Wer verlangt nach einer Geschichte?" Augenblicklich kehrte Stille ein.
"Ich, Herr Neunauge", antwortete es aus einer der hinteren Ecken und Rigor Mortis klappte seine hagere Gestalt in die Höhe.
"Willst du auch den Preis bezahlen?"
"Ja, ich bezahle den Preis. Bitte nennt ihn mir."
Neunauge streckte seinen rechten Zeigefinger aus und betrachtete Rigor mit einem kleinen Auge auf der Fingerspitze. Verblüfft blinzelte das Auge.
"Du wirst mir eine rote Locke bringen", sprach Neunauge aus, was ihm das Auge zeigte.
"Hä?"
"Eine rote Locke. Haare die rot sind."
"Okay. Rote Haare. Das ist alles?"
"Du wirst es wissen, wenn du sie siehst," verkündete ihm Neunauge kryptisch. "Bist du bereit den Preis zu zahlen?"
"Ja, sicher." Rigor wusste, dass es jetzt kein Zurück mehr gab. Anschreiben ging nicht und eigentlich war er zufrieden, das er nur ein Büschel Haare besorgen musste. Im Schankraum erklang enttäuschtes Murmeln. Normalerweise war der Preis, der für eine Geschichte bezahlt werden musste, der eigentliche Gaudi und hatte den Charakter einer Mutprobe für den, der ihn entrichten musste.
"Eine Geschichte für Herrn Mortis. So sei es," verkündete Neunauge und sofort kehrt wieder Ruhe ein.
Neunauge richtete seine Hauptaugen auf Rigor, schloss sie und öffnete das ALLSEHENDE AUGE auf seiner Stirn. Rigor stöhnte leise auf und ein kalter Schauer rieselte über seinen Rücken. Es war eine prophetische Geschichte. Was hatte er sich da eingebrockt?
Neunauge begann:

*

"Eines Tages entschloss sich der Wahnsinn, seine Freunde zu einer Gesellschaft einzuladen. Als sie alle beisammen waren, schlug die Lust vor, Verstecken zu spielen.
"Verstecken? Was ist das?" fragte die Unwissenheit.
"Verstecken ist ein Spiel. Einer zählt bis 100, der Rest versteckt sich und wird dann gesucht", erklärte die Schlauheit.
Alle willigten ein bis auf die Furcht und die Faulheit. Der Wahnsinn war wahnsinnig begeistert und erklärte sich bereit zu zählen und zu suchen.
Das Durcheinander begann, denn jeder lief durch den Garten auf der Suche nach einem guten Versteck. Die Sicherheit lief ins Nachbarhaus auf den Dachboden, man weiß ja nie. Die Sorglosigkeit wählte das Erdbeerbeet. Die Traurigkeit weinte einfach so drauf los. Die Verzweiflung auch, denn sie wusste nicht, ob es besser war sich hinter oder vor der Mauer zu verstecken.
"....98, 99, 100!" zählte der Wahnsinn.
"Ich komme!"
Die Erste, die gefunden wurde, war die Neugier, denn sie wollte wissen, wer als Erster geschnappt wird und lehnte sich zu weit aus ihrem Versteck heraus. Auch die Freude wurde schnell gefunden, denn man konnte ihr Kichern nicht überhören.
Mit der Zeit fand der Wahnsinn all seine Freunde und selbst die Sicherheit war wieder da.
Doch dann fragte die Skepsis: "Wo ist denn die Liebe?"
Alle zuckten mit den Schultern, denn keiner hatte sie gesehen. Also gingen sie suchen. Sie schauten unter Steinen, hinterm Regenbogen und auf den Bäumen. Der Wahnsinn suchte in einem dornigen Gebüsch mit Hilfe eines Stöckchens.
Und plötzlich gab es einen Schrei! Es war die Liebe. Der Wahnsinn hatte ihr aus Versehen mit seinem Stock ein Auge ausgestochen. Er bat um Vergebung, flehte um Verzeihung und bot der Liebe an, sie für immer zu begleiten und ihre Sehkraft zu werden. Die Liebe akzeptierte diese Entschuldigung und nahm sein Angebot an.
Seitdem ist die Liebe blind und wird vom Wahnsinn begleitet."

*

Das ALLSEHENDE AUGE schloss sich mit einem Blinzeln und unruhig scharten die Gäste mit den Füßen. Diese Geschichte forderte zum Nachdenken auf, was für viele eine eher anstrengende Beschäftigung war.
"Hihi, haha, die ist gut!", grölte da Vater Abel los und trommelte mit seinem Krückstock auf den Boden.
"Der Wahnsinn, haha, und die Liebe. Blind, hihi. Sehhilfe, haha."
Rigor wusste nicht so recht, was er davon zu halten hatte und der Rest des Publikums auch nicht. Geschichten vom ALLSEHENDEN AUGE bezogen sich immer auf den Fragesteller und seine Zukunft. Nur konnte sich keiner so richtig vorstellen, was ein vegetarischer Vampir mit der Liebe zu tun haben sollte. Vielleicht eher noch mit dem Wahnsinn. Nun ja, man würde sehen.
"Die nächste Runde geht auf mich," versuchte Rigor die Situation zu retten, bevor Vater Abel ihn endgültig blamierte.
Benommen schüttelte sich Neunauge und strich sein dichtes Haar über das ALLSEHENDE AUGE bevor es noch mehr Unheil anrichten konnte. Dieses Auge war ihm unheimlich. Er verstand nie die Bilder, die er damit sah. Sie waren in sich so verdreht und verworren, das er Kopfschmerzen davon bekam. Es öffnete sich auch nur sehr selten. Warum es unbedingt einen Blick auf Rigor Mortis, den vegetarischen Vampir, werfen wollte, war ihm völlig unklar. Aber das sollte nicht sein Problem sein. Es war ja schließlich nicht seine Zukunft, die er damit sah.
Grübelnd ging er in sein Vorratslager und holte ein kleines Fässchen Tomatensaft hervor, um für die gesamte Kundschaft eine Bloody Mary zu mischen, die eigentlich nur vegetarische Vampire aushalten konnten. Jeder andere Gast würde schlechte Laune bekommen, da kein einziges Promille enthalten war. Aber es war nun einmal das Lieblingsgetränk des Vampirs und deshalb waren seine Gratisrunden immer so beliebt.
An Rigors Tisch erholte sich Vater Abel nur langsam von seinem Lachanfall.
"Hihi, einäugige Liebe, hihi," gluckste er vor sich hin."Das hast du nun davon. Ich habe es dir gesagt."
Rigor verzog sein Gesicht. Er wusste nicht, was er davon halten sollte.
"Weißt du denn schon, woher du die Haare bekommst?", fragt ihn Vater Abel. "Ich kenne da eine ältere Dame, die würde dir sehr gefallen." Lachtränen kullerten ihm über seine runzeligen Wangen in den Bart.
"Nein, ich weiß noch nicht. Vielleicht frage ich im Gemischtwarenladen nach. Herr Pinker hat ein großes Lager."
"So einfach wird es nicht werden. Du weißt, Neunauges Preise haben es in sich."
"Ich weiß, ich weiß. Wieso habe ich das nur getan? Der Tag hat so gut begonnen. Da war dieses Mädchen. Du kennst doch die alte Mara Shirridan? Die, die so überraschend gestorben ist. Sie hat in ihrer Familie eine Nichte und dieser hat sie ihr Haus vererbt. Ich habe ihr heute die Schlüssel gebracht. Sie sieht ihrer Tante sehr ähnlich."
"Meinst du die Kleine da, die in der Tür steht?" unterbrach ihn Vater Abel und zeigte mit dem Krückstock zur Tür, wo Lindis verloren in den Schankraum blickte. Rigor erstarrte.
"Ich wollte sie doch abholen," stammelte er, "Wie soll sie denn alleine das 69-Eyes finden?"
"Nun, anscheinend hat das 69-Eyes sie gefunden und hergebracht. Schau mal, sie hat rote Haare. Und Locken." Vater Abel grinste. "Na klingelt's endlich?"
Rigors Mund klappte auf und seine langen Fangzähne blitzten hervor.
"Oh je. Das ist es also."
Neunauge wuchtete gerade das Fässchen Tomatensaft auf die Theke als seine Blicke auf Lindis fielen. Erschrocken blinzelte er. Alle seine Augen schlossen sich, damit das ALLSEHENDE AUGE besser sehen konnte. Und es SAH.

*

Geschichte und Charaktere von Lindisfari, September 2015