Klingelstreiche
Rigor Mortis schaute sich die Klingeltafel mit den vielen Namen an. Da stand er nun und zögerte.
Darauf sollte ihn eigentlich der Kurs "Selbstständig - zu Fuß zum Erfolg" vorbereitet haben.
"Sei furchtlos!", rief er sich einen Slogan aus dem Kurs ins Gedächtnis.
"Sie können Dir nichts tun!" war eine weitere Parole seines Schulungsmeisters.
Und die Wichtigste: "Drück endlich den verfluchten Klingelknopf, du Idiot!"
Das half. Rigor Mortis Finger bewegte sich in Zeitlupe zu dem silberblanken Knopf oben links und drückte darauf.
Nichts geschah. Mutiger geworden drückte Rigor Mortis den Knopf daneben. Ein Kinderspiel. In fröhlichem Stakkato
bimmelte er munter drauf los.
"Ja, bittä?", tönte auf einmal eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher.
"Wer is´n da?"
Rigor schluckte und sprach mit Grabesstimme: "Ähm ja, hier ist der Tod."
Stille.
"Ähm, der Bestatter."
Stille.
"Ähm, machen Sie bitte einfach auf."
Immer noch Stille auf der andern Seite der Sprechanlage. Auch nach einigen Minuten geduldigen Wartens kam keine Reaktion.
Rigor seufzte: "Die Gute ist wohl noch nicht so weit. Dann versuche ich es beim nächsten Haus", und lief los.
Seitdem sein Bestattungsunternehmen auch einen würdevollen Abgang für Radfahrer anbot, musste sich der Vampir neuen
Herausforderungen stellen.
Die Kampagne "Ewig platt" wurde zum vollen Erfolg. Leider ganz zum Nachteil von Rigor Mortis Firma.
Seine verteilten Flyer, Werbeplakate, Graffitis und mündlichen Belehrungen bewirkten einen unerwarteten Rückgang
der Verkehrsopfer bei Fahrradfahrern.
Diese fuhren auf einmal mit gut beleuchtete Fahrrädern umsichtig und vorbildlich auf Radwegen, missachteten keine roten
Ampeln und stellten sich nicht in den toten Winkel von Rückspiegeln. Die Stadt hatte gar den Preis als
"Stadt der vorbildlichsten Radfahrer" gewonnen.
Nur Rigor Mortis hatte rein gar nichts davon. Er saß in seinem Laden und fing aus lauter Langeweile Fliegen und
spielte ihnen voller Wehmut phrygische Tonleitern auf seiner Violine vor.
Sein Geschäft schwebte um Haaresbreite über dem Insolvenzabgrund.
Aus reiner Verzweiflung ging er zum "Schrecklichen Amt" und bat um Hilfe.
Seine Sachbearbeiterin runzelte die Stirn, schob sich die dicke Hornbrille auf der Nase zurecht und bewilligte ihm den
Weiterbildungskurs "Selbstständig - zu Fuß zum Erfolg".
Die Idee war gar nicht mal so übel. Anstatt im Laden auf seine Kunden zu warten, die zumal oft schon tot waren, ging er
direkt zu ihnen. Und das, wenn sie noch lebten.
Also direkt zu ihnen nach Hause.
Ohne Termin. Einfach so. Spontan.
Unverhofft.
Unbekannt.
Unerwünscht.
Nachdem Rigor seine Ausbildung zum Handelsvertreter in Sachen Tod erfolgreich abgeschlossen hatte, befand er sich nun den
ersten Tag im Feld.
Rigor hatte sich eine Wohnsiedlung am Rande der Stadt ausgesucht. Hier roch es in den Straßen besonders streng nach Armut,
Verbrechen und Gewalt. Sichere Vorboten für den Bedarf von Bestattungsutensilien und einer würdigen Zeremonie.
In dem schwarzen Köfferchen in seiner Hand wartete eine Kollektion von Miniatursärgen, von Fichte bis blauem Panzerglas,
auf die fachkundige Präsentation vor den Augen seiner Kundschaft. Die Kundschaft würde sehr gemischt sein. Vom verarmten
Trinker bis zum goldschweren Drogenbaron erwartete Rigor alles.
Das nächste Haus sah nach der ersten Kategorie aus. Der Putz blätterte vom Mauerwerk und die Haustür hing schief in den Angeln.
Auf dem Klingelschild hatte jemand versucht, handschriftlich die Namen der wechselnden Bewohner zu erfassen, was ein Gewirr von
Buchstaben, Pfeilen und schwarzen Balken zur Folge hatte.
Die Haustür stand offen und Rigor trat ohne die lästige Klingelei in den dunklen Hausflur ein. Am Ende konnte er die Umrisse
einer Wohnungstür erkennen.
Entschlossen und aufrecht positionierte Rigor seinen zwei Meter großen Körper in perfektem Abstand zur Tür und klopfte in
einem monotonen Rhythmus an.
Er strahlte Würde und eine unterschwellige Hoffnungslosigkeit aus, die jeden dazu trieb, sein Testament zu schreiben und
über Erd- und Feuerbestattungen nachzudenken.
Schlurfende Schritte näherten sich der Tür und hielten an. Rigor schluckte.
"Jetzt nur keinen Fehler machen," dachte er nervös.
Knarrend öffnete sich die Tür und ein weißer Haarkranz schob sich durch den Spalt. Stechende Augen musterten Rigor,
dem es auf einmal schwer fiel zu atmen.
"Kommen Sie rein," herrschte ihn die Stimme an.
"Ich habe Sie bereits erwartet. Sie sind zu spät."
Verwirrt trat Rigor ein.
"Hier entlang."
Er folgte der Stimme und dem weißen Haarkranz.
"Hinsetzen. Dort."
Eine altersfleckige Hand wies auf ein schäbiges braunes Sofa. Im Halbdunkel des Raumes konnte Rigor wuchtige Möbel
mit seltsamen Figürchen erkennen. Vorsichtig ließ er sich auf dem fleckigen Polster nieder.
"So und jetzt zeigen Sie mal her!", drängte sein Gegenüber.
"Was soll ich zeigen?", fragte Rigor unsicher und betrachtete die kleine gebeugte Gestalt.
"Ihre Kollektion, Herr Mortis. Die Särge. Haben Sie die mit den Kupferbeschlägen am Kopfende?"
Die Stimme kratzte wie eisige Äste über seinen Rücken.
"Ja, sicher."
Hastig öffnete er sein Köfferchen, holte die kleinen Särge heraus und drapierte sie auf dem Tisch. Nur am Rande registrierte er,
dass er sich namentlich nicht vorgestellt hatte.
"Woher wissen Sie...?"
"Papperlapapp, Einerlei, zuerst einmal das Geschäftliche", wurde er unterbrochen.
Der weiße Haarkranz setzte sich ihm gegenüber und nahm einen der Särge in die Hand und stieß bewundernde Laute aus.
"Wunderbar, einfach wunderbar. Ein Wurzelholzsarg mit Kupferverzierungen. Genau der soll es sein."
Rigor konnte unter dem strubbeligen Haarkranz ein altes verwittertes Gesicht erkennen, das weiblich zu sein schien.
Die lange gekrümmte Nase spitzte daraus deutlich hervor.
"Diesen und keinen Anderen will ich haben."
Rigor nickte zustimmend.
"Eine sehr gute Wahl. Wird für gewöhnlich von Hexen bevorzugt gekauft. Aber natürlich ist der Sarg auch für Menschen verkäuflich."
"Ich bin eine Hexe", kicherte es los.
Erschrocken riss der Vampir seine Augen auf. Seine erste Kundin war eine Hexe!
"Tortella die Unverwüstliche. Freunde nennen mich auch Torti. Ich brauche den Sarg nächsten Freitag. Keine Einäscherung.
Die Abschiedsfeier findet in der Nacht neben dem Friedhof unter der großen Eiche statt. Verscharren könnt ihr mich direkt daneben.
Keine weißen Lilien. Nur Silberdisteln, Stechapfel und Eibe als Deko. Meine Schwestern übernehmen den musikalischen Teil."
Hastig zog Rigor ein Formular aus dem Koffer und kreuzte die entsprechenden Felder an.
"Vergessen Sie nicht den Leichenschmaus", ermahnte ihn Tortella.
"Ich will das übliche Hexentrauermahl. Der Wein wird mit Wasser gestreckt, sonst passiert wieder so ein Malheur wie im letzten Sommer bei Onkel Krocks Begräbnis."
Rigor sah Trotella fragend an.
"Es stand in allen Zeitungen", sagte diese vorwurfsvoll.
"Ein paar Menschen werden immer noch in den Tümpeln gesucht. Aber anscheinend finden sie das Leben als Frosch so toll, dass sie nicht mehr zurückverwandelt werden wollen. Oder der Storch hat sie geholt."
Tortella zuckte mit den Schultern.
"Meine Familie hat sich entschuldigt. So was passiert halt."
In großen Buchstaben vermerkte sich Rigor im Notizfeld: Wein = Rote Limonade.
"Darf ich eine Frage stellen?", hob er an. "Wieso nächsten Freitag? Haben Sie etwa vor..."
Er beendete den Satz nicht.
Schweigend hob Tortella ihre Hand und zeigte auf eine Kristallkugel auf einem Beistelltisch.
"Blöder Unfall im Haushalt. Ich werde den nassen Scheuerlappen auf dem Fußboden verlieren und beim Zurückkommen darauf ausrutschen. Kopf knallt auf Tisch. Tisch gibt nicht nach. Kopf ist futsch. Aus die Maus", beendete Tortella ihre Aufzählung.
Rigor schaute Tortella schockiert an. Für vegetarische Vampire war das harter Tobak. Die Vernichtung von Leben war in seiner schlichten Einfachheit schrecklich. Zapp, einfach aus.
"Ach Jungchen", besänftigte Torti ihn, "das ist der Lauf der Dinge. Fünfhundertdreiunddeißig Jahre reichen mir vorerst. Ich lege eine Pause in diesem chaotischen Jahrhundert ein. Bis zu meiner Wiedergeburt in 472 Jahren werden meine Sachen eingelagert. Können Sie das übernehmen?"
Rigor nickte. Er kannte da ein Lagerhaus, welches genau die Bedürfnisse von Tortella bedienen konnte.
"Aber passen Sie bitte auf. Einige von meinen Sachen sind, nun ja, sehr gefährlich. Wenn Sie wissen was ich meine."
Tortella senkte ihre Stimme.
"Die ganz speziell gefährlichen Dinge im Universum. Vor allem die Bücher", flüsterte sie.
"Da müssen Sie ganz besonders aufpassen. Am besten lagern sie die ganz weit unten."
"Machen sie sich keine Sorgen, Miss Tortella. Ich werde alles zu ihrer Zufriedenheit arrangieren", versprach Rigor.
Tortella grinste ihn zufrieden mit ihrem letzten Zahn an, ritzte sich mit einem kleinen Messer den Daumen und schmierte drei blutige Kreuze auf sein Auftragsformular.
"Das sollte reichen. Das Gold portiere ich morgen in ihr Büro."
Rigor nickte erfreut. Das fing an Spaß zu machen.
"Und nun müssen Sie gehen. Ich muss noch soviel erledigen. Welch ein Stress. Aber daran werde ich sicher nicht sterben."
Die Alte kicherte irre vor sich hin und Rigor stopfte eilig seine Sargkollektion in die Tasche.
"Nun, ich bedanke mich sehr bei Ihnen," verabschiedete er sich.
"Papperlapapp, red keinen Unsinn Jungchen. Bist doch froh endlich weg zu können. Hinaus mit dir."
Damit schob die alte Hexe ihn vor die Wohnungstür und schlug diese mit einem lauten Knall hinter ihm zu.
Verwirrt stand der Vampir noch eine Weile vor der Tür. Seine eine Hand umklammerte das Formular, die andere das Köfferchen mit den Särgen. Langsam breitete sich ein Lächeln auf Rigor Mortis Gesicht aus.
"Das fängt wirklich an Spaß zu machen," dachte er und ging mit beschwingtem Schritt zur nächsten Tür.
*
Geschichte und Charaktere von Lindisfari, September 2015