logo

Ewig platt

Der Tag versank im trüben Grau der Regenwolken, zu einem schmutzigen Schwarz. Unablässig klatschten die schweren Regentropfen auf die Scheiben des Wagens und wurden von den Scheibenwischern weggefegt.
Rigor Mortis stand an einer roten Ampel und wartete auf grün. Missmutig schnaufte er. Es war ein langer erfolgloser Tag.
Als frischgebackener Vampir hatte er sich an den Rat seines Untotenhelfers gehalten und sich im Bestattungswesen eingerichtet. Denn lebend oder untot, das Finanzamt machte keinen Unterschied und wollte die monatlichen Steuern bezahlt haben.
Drei Ecken vom 69-Eyes entfernt hatte Rigor ein kleines unvermietetes Geschäft gefunden und sofort angemietet. Das kleine Haus, an dem der Putz bröckelte, versprühte mit seinen altersdunklen Mauern und staubigen Fenstern einen düsteren Charme, der Rigor an Verlust und Tod denken ließ. Eine wilde Kletterrose mit dunkelroten, fast schwarzen Blüten wucherte an der Regenrinne empor und zauberte blutige Tropfen auf die dunkle Mauer. Ein heimeliger Schauer war Rigor über den Rücken gekrochen und er hatte erfreut seine Hände gerieben.
Innerhalb einer Woche waren die Scheiben geputzt und der Verkaufsraum gefegt und neu ausgestattet. Im Schaufenster prangte Rigor Mortis ganzer Stolz. Ein kleiner silbernen Tisch, auf dem kleine Miniatursärge dekorativ ausgestellt waren. Für jeden Geschmack gab es etwas.
Für schlichte Gemüter mit kleinem Geldbeutel gab es eine Auswahl an Holzsärgen, welche selbst zusammengebaut werden mussten. Rigor nannte dieses Sortiment gern die "Oh-nee-Modelle" und bewunderte alle, die sich so ein Ding bestellten. Er hatte es einmal versucht, so einen einfach aussehenden Sarg zusammenzubauen. Nach vielen "Oh, nee" hatte er es irgendwann auch geschafft. Nur die Leiche wollte nicht ganz passen und er benutzte zum ersten Mal in seiner Laufbahn als Bestatter eine Säge.
Neben den Holzsärgen waren noch diverse Steinmodelle zur Schau gestellt. Natürlich war von Marmor bis Granit alles vertreten. Für Vampire gab es noch die Sparte der Schlafsärge. In diese hatte Rigor den neuesten Stand der Technik verbauen lassen. Garantiert lichtdicht und feuerfest boten moderne Überwachungssysteme besondere Überraschungen für Einbrecher und Vampiertöter. Einige besonders fiese Fallen hatte der Gnom Vater Abel konstruiert und Rigor gegen eine deftige Gewinnbeteiligung überlassen.
Bei der Ladeneröffnung von "Ruhe in Frieden" war sehr viel neugieriges Volk erschienen. Bier und Blut aus der Konserve flossen in Strömen und die Stimmung war fröhlich wie bei einem Volksfest.
Doch seit einigen Wochen gab es eine große Flaute im Sterbesektor und Rigors Firma "Ruhe in Frieden" schrieb rote Zahlen.
Heute hatte Rigor sogar fünf Altenheime, drei Krankenhäuser und ein Obdachlosenheim besucht und nach Kundschaft gefragt. Nix. Nada. Niente. Alle waren sie putzmunter und sein großer komfortabler Leichenwagen mit eingebauter Kühlung war leer geblieben.
Erst heute morgen hatte er in der Zeitung gelesen, dass die große Schwemme erst in einigen Jahren zu erwarten war. Dann, wenn die Rentenpolitik der Regierung die ersten Rentner in den finanziellen Ruin treiben würde und die Alternative zum Selbstmord, langsames Vegetieren im Aufbewahrungsheim hieß. Doch noch war es nicht so weit.

Die Ampel schaltete auf Grün und Rigor fuhr langsam an, da er durch den Regen kaum etwas sehen konnte. Plötzlich schoss ein schwarzer Schatten von rechts auf ihn zu, rauschte auf der Kreuzung knapp vor seiner Stoßstange vorbei und verschwand im Regen. Mit einem heftigen Ruck blieb der schwarze Wagen stehen und Rigor wurde in seinen Gurt gedrückt.
"Verdammter Radfahrer!!!", kochte Rigor.
Seine Augen wurden schwarz und wütend riss er das Lenkrad herum, trat auf das Gaspedal und schlitterte mit quietschenden Reifen um die Kurve. In Rigor brannte die Wut und seine Jagdinstinkte waren geweckt. Den würde er erwischen. Gesetze hin oder her. Bei Rot über eine Ampel fahren war eine Todsünde. Ohne Licht fahren, noch eine. Nachts im Regen ohne Licht, bei Rot über eine Ampel fahren, war der pure Selbstmord. Und dass es den Radfahrer nicht erwischt hatte, lag nur an Rigors ausgezeichneten vampirischen Reflexen. Aber das würde er ändern.
Der Leichenwagen schoss durch eine Pfütze, dass das Wasser in einer Fontäne auf den Gehweg spritze. Dort vorn konnte Rigor einen Schatten ausmachen. Das war er. Mit einem Aufheulen trat er das Gas durch und zog ein Stück an dem Radfahrer vorbei, um sich dann quer vor ihm auf die Straße zu stellen. Mit einer geschmeidigen Bewegung bugsierte Rigor seine klapprigen 2 Meter Körper aus dem Wagen und stellte sich mit erhobenem Arm mitten auf die Straße.
"Stopp!!!"
Die Stimme dröhnte aus seinem Mund, wie das Wort Gottes. Erschrocken blieb der Radfahrer vor ihm stehen.
"Was...?", stammelte dieser.
Irritiert blinzelte Rigor. Der Mann hatte eine hauchdünne Aura, die nur schwach vor dem nachtschwarzen Hintergrund leuchtete. Der Mann war so gut wie tot.
Jetzt erkannte er auch, dass das Gesicht des alten Mannes von einer schweren Krankheit gezeichnet war. Die Augen lagen tief in den Höhlen und er sah ausgezehrt und müde aus.
"Du bist ohne Licht und bei Rot über die Kreuzung gefahren!", raunzte Rigor. "Willst du dich etwa umbringen?"
"Ähm, ja," flüsterte der Mann leise, "das war mein Plan."
Zornig und mit spitzem Zahn schaute ihn Rigor an. Der Mann hob abwehrend die Hände.
"Ich habe nur noch ein paar Tage zu leben. Ich bin krank", entschuldigte er sich ängstlich.
"Wie bitte?"
"Es tut mir leid, dass ich sie mit meinem Selbstmord belästigt habe", murmelte der Mann und wollte mit seinem Rad weiter fahren.
"Halt!"
" Aber so verstehen Sie doch, Herr Vampir", flehte der Radfahrer. "Ich habe es schon mit Tabletten und dem Strick versucht. Aber es ging immer etwas schief. Bis mir ein Freund geraten hat: "Setz dich einfach ohne Licht auf dein altes Fahrrad und fahre einfach geradeaus durch die Stadt. In spätestens 10 Minuten bist du tot."
Rigor Mortis konnte es nicht fassen.
"Das war meine erste Kreuzung. Ich habe also noch nicht viel Erfahrung. Wenn sie mich bitte entschuldigen würden. Ich möchte in den nächsten 10 Minuten tot sein. Sie haben mir Hoffnung gemacht, dass es heute noch klappt."
In Rigor Mortis regte sich der Geschäftssinn. Eine Leiche in 10 Minuten? Die Erste heute. Die erste Leiche seit Tagen.
"Haben sie schon jemanden, der sich um ihre sterblichen Überreste kümmert?", fing Rigor an.
"Also ich bin gerade mit meinem Wagen da." Vielsagend zeigte Rigor Mortis mit dem Daumen über seine Schulter. Mattschwarze Eleganz vereinte sich mit praktischem Komfort zum neuesten Modell unter den Bestattungsautos.
"Der Sarg ist gekühlt."
"Nein, ich habe mir darüber keine Gedanken gemacht. Kommt da nicht zuerst ein Krankenwagen?", fragte er.
"Aber nicht doch," rief Rigor Mortis entsetzt aus.
"Waren sie jemals an einem Unfallort? Sie werden öffentlich reanimiert, intubiert und wenn alles nichts geholfen hat, eingesammelt und in einen Plastiksack gesteckt. Dann wirft man sie auf eine Trage und karrt sie zum nächsten Krankenhaus in der Pathologie. Wenn sie Glück haben, ist es nicht überfüllt und sie warten nur 3 Tage auf einen Platz im Kühltrakt. Kein schöner Anblick für die Hinterbliebenen."
Der Mann schaute Rigor Mortis mit großen Augen an.
"Wenn sie es so sehen, nun ja..."
Rigor legte dem Radfahrer freundschaftlich seinen Arm auf die Schulter.
"Ich mache ihnen einen Vorschlag. Sie steigen wieder auf ihr Fahrrad und fahren weiter. Ich kenne da eine Kreuzung, wo es sie hundertprozentig erwischt. Sehr viele Lkw´s und zwei abbiegende Straßenbahnen. Ich fahre hinter ihnen her und kümmere mich um den Rest. Als Bestatter darf ich ihren Tod bescheinigen und sie sofort mitnehmen. Sie werden von mir diskret in meine eigene Leichenhalle überführt. Die Begräbnisfeier und die Beerdigung arrangiere ich natürlich auch für sie."
Mit einem gewinnenden Lächeln schaute Rigor den kranken Mann an. Der überlegte einen kurzen Augenblick und schlug mit einem erleichterten Seufzer in Rigors Hand ein.
"Sie nehmen mir eine schwere Last ab, Herr...?"
"Mortis. Rigor Mortis" stellte sich der Vampir vor. "Kommen sie nur kurz zum Auto, wo wir das Vertragliche regeln."
Ohne zu zögern folgte der Mann dem fröhlich vor sich hin murmelnden Vampir.

***

"Nun sag schon, warum grinst du wie eine frisch gemolkene Kuh vorm Schlachthaus?"
Vater Abel hatte schlechte Laune. Er bekam immer schlechte Laune, wenn er fröhliche Menschen sah. Fröhliche Vampire waren noch schlimmer. Und jetzt auch noch Rigor Mortis, sein bester Kneipenfreund. Die Verkörperung eines depressiven Emo, der vorzeitig zum Vampier verwandelt wurde, schlechthin. Sonst saß er immer mit hängenden Schultern in der dunkelsten Ecke des 69-Eyes und konnte stundenlang zuhören, wenn Vater Abel über die Gräueltaten seiner Kunden schwadronierte. Ab und zu versenkte Rigor Mortis an einer besonders dramatischen Stelle einen angespitzten Holzpieker
in ein unschuldiges Käsehäppchen und seufzte schaurig. Vater Abel musste dann immer an Voodoopuppen denken.
Und jetzt? Jetzt saß dieser Stiesel von einem Vampir vor ihm und grinste vor sich hin.
"Was? Was ist es?", kreischte Vater Abel frustriert auf.
Liebevoll legte sich Rigor ein Käsehäppchen auf die Zunge und vernaschte es.
"Ich hab es", sagte er kurz.
Entnervt rollte Vater Abel mit den Augen.
"Was hast du?"
"Na eine Idee. Die Idee, um genau zu sein", antwortete Rigor.
"Wie ich mein Geschäft retten kann."
"Ach so, das ist es."
Vater Abel entspannte sich. Das war nicht so schlimm wie er dachte. Neue Ideen zogen neue Probleme nach sich und schon bald würde Rigor wieder der Alte sein und er konnte sich nach Feierabend wieder in seiner dunklen negativen Aura entspannen.
"Ich mache jetzt in der Radfahrerbranche. Also genauer gesagt, ich vereine Selbstmord mit Radfahren."
"Häh? Ich verstehe nur Bahnhof", schimpfte Vater Abel.
"Radfahren hat die höchste Mortalität. Bist du jemals im Winter in der Rush Hour durch die Stadt gefahren?"
Vater Abel schaute ihn entsetzt an.
"Und wenn du dann noch ein Öko mit einer Helmallergie bist und kein Geld für die Lampenglühwürmchen hast, dann kannst du gleich dein Testament machen." Hier grinste Rigor wieder begeistert über das ganze Gesicht.
"Und das natürlich bei mir. Ich biete den kompletten Service für Selbstmörder an. So etwas wie: "Autobombe war gestern - Selbstmordradeln ist heute" oder "Der kluge Selbstmordradler sorgt vor - nie wieder Helmpflicht."
Vater Abel schüttelte seinen Kopf. Dieser Vamp war irre.
"Natürlich nehme ich nur todkranke Kunden an", fuhr Rigor fort. "Ich berate sie ausführlich, wie es am schnellsten geht. Und dann sorge ich für einen reibungslosen Ablauf aller Formalitäten."
Zufrieden schlug sich Rigor mit beiden Händen auf seine knochigen Schenkel und lachte Vater Abel ins Gesicht.
"Das ist DIE Marktlücke."
Mit zuckersüßer Stimme entgegnete Vater Abel:"Und was ist mit all dem Leid?"
Verblüfft schaute Rigor ihn an.
"Dem Leid?", fragte er.
"Ja, dem Leid, welches du verursachst. Der Schuld, die du auf dich lädst, weil du Sterbehilfe geleistet hast. Was ist damit?"
Zufrieden schob Vater sein Kinn vor, sodass sein Zickenbart nach oben stach. Jetzt hatte er den Vampir da, wo er ihn haben wollte. Kurz vor seiner nächsten Depri-Phase.
"Ja, das Leid", sprach Rigor gedehnt, "das schlechte Gewissen jemanden den Tod gebracht zu haben wiegt sehr schwer." Seine Mundwinkel sackten nach unten.
"Du hast Recht. Das werde ich dann auf mich nehmen müssen." Rigor´s ganze Gestalt drückte sich tiefer in die dunkle Ecke.
"Ich werde es ertragen. Aber das ist nur ein kleiner Dienst an der Menschheit. Meine Kunden sterben zufrieden. Voll versorgt!" Sich selbst begeisternd schwenkte Rigor seine Hände durch die stickige Kneipenluft.
"Die nächste Runde Bloody Mary Spezial geht auf mich."
Vater Abel grunzte. An den benachbarten Tischen kehrte kurz Stille ein. Der frenetische Jubel der auf eine Freirunde sonst folgte, blieb bei Rigors Ankündigung aus. Eilig wurden Blicke gesenkt und die Unterhaltungen fortgesetzt.
An Kummer mit Rigor Mortis gewöhnt, schnappte sich Neunauge, der Wirt vom 69-Eyes, ein Kochtailglas und mixte eine Bloody Mary Spezial für vegetarische Vampire:
Ein Teil Tomatensaft, zwei Teile Wasser, und der Salzrand am Glas. Das langweiligste Gesöff, welches er je gemixt hatte. Und jeden Abend musste er es wieder tun. Wortlos stellte er die Bloody Mary Spezial vor Rigor auf den Tisch.
"Auf meine neue Firma. Sie soll "Ewig platt" heißen." Der Vampir hielt sein Glas in die Höhe. Anstandshalber hob Vater Abel ebenfalls seinen Krug, in dem es leise zischte, und stieß an.
"Auf deine neue Firma."
"Und möge sie kurz und erfolglos sein", dachte er im Stillen. Vielleicht konnte er Rigor noch seine gute Laune verderben, wenn er ihm erzählte, was ihm heute mit diesem Kunden passiert war.
"Also da war dieser Kunde", fing er an zu erzählen, "so ein vollkommener Idiot."
Rigors Schultern sackten nach vorn und wortlos versank er beim Zuhören in seine heimelige Welt der Traurigkeit, die ihn wie eine warme Decke einhüllte.


*

Geschichte und Charaktere von Lindisfari, September 2015